Scharschmidt Übersetzung S. 581-583

[581]
Kopie des Briefes, den Herr Ludolf aus England an Herrn Prof. Mag. A. H. Francke geschickt hat.
Überaus ehrwürdiger und hochgelehrter Mann, hochgeschätzter Förderer und Freund!
Weil ich von meinem Herrn Onkel, Herrn Prof. Hiob Ludolf, gehört habe, dass ich dir nicht gänzlich unbekannt bin, zögere ich um so weniger, dich hiermit anzusprechen, und hoffe, etwas dir nicht Unwillkommenes zu tun, wenn ich dir die Lage der Kirche im überaus gewaltigen Russischen Reich ein wenig skizziere. Durch die Milde des Zaren erfreuen sich die Unsrigen freier Religionsausübung; nicht nur in der Hauptstadt Moskau, wo es zwei Gotteshäuser der Lutheraner gibt, sondern auch in Archangelsk und überdies in Nowgorod und Belgorod, wo ein Grenzposten gegen die Tartaren unterhalten wird, werden für ausländische Beamte Gottesdienste nach lutherischem Brauch gefeiert. Daher würde es mit größtem Gewinn für die Kirche einhergehen, wenn man dafür sorgen würde, dass frühzeitig Personen für eine solche Tätigkeit gerüstet werden, die unsere Kirche nicht nur erfolgreich leiten, sondern auch diesem überaus bevölkerungsreichen Land zu größerer Erkenntnis der Wahrheit die Fackel vorantragen könnten. Es scheint jedenfalls, dass Zar Peters höchste Freundlichkeit gegenüber Ausländern diese Sache erleichtern wird, weil jetzt nicht nur die Russen ohne Lebensgefahr, wie einst, mit Ausländern Gespräche über Religionsfragen beginnen, sondern auch der Zar selbst, wenn er an festlichen Gelagen von Ausländern teilnimmt,

[582]
gern über Glaubensfragen spricht, auf die die Kaufleute und Soldaten (von dieser Art sind die dort lebenden Ausländer) jedoch nicht sorgfältig genug eingehen, während unsere Pastoren sie Seiner Majestät nicht erklären können, weil sie der einheimischen russischen Sprache unkundig sind. Als ich in Moskau weilte, verriet mir der Leibarzt des Zaren, Herr Dr. Blumentrost, ein ebenso der Frömmigkeit wie dem Alter nach ehrwürdiger Mann und auch Erster Vorsteher des zweiten lutherischen Gotteshauses, wenn sie einen geeigneten jungen Mann bekommen könnten, der die Aufsicht über die Schule mit einem ihm unterstellten Unterschulmeister übernehmen und den Pastor bei den Nachmittagspredigten unterstützen soll, werde ihm nicht nur das für seinen Lebensunterhalt nötige Einkommen gewährt, sondern müsse ihm auch nach Ableben des Pastors dessen Nachfolge übertragen werden. Diese Sache wollte ich dir darlegen, falls du vielleicht unter deinen Hörern einen jungen Mann entdecken solltest, der ebenso durch seine Begabung wie durch seinen rechtschaffenen Charakter auffällt und sein Leben seinem Erlöser weihen und sich für den Dienst an diesen entferntesten Gliedern des Leibes Christi aufopfern will. Mit weitaus größerem Erfolg aber würde er diese Tätigkeit antreten, wenn er die einheimische Sprache dieser Gegend verstehen würde, da sogar unter den dort geborenen Lutheranern einige die deutsche Sprache nicht ausreichend kennen. Aber nicht jeder Geist ist fähig, diese Sprache zu erlernen, da die russische unter den europäischen eine der schwierigsten ist, wie aus der Einführung in diese Sprache ersichtlich sein wird, die ich in Oxford zu veröffentlichen beschlossen habe, wenn Gott meine schwache Gesundheit stärkt; auch habe ich dafür gesorgt, dass auf Kosten dieser Universität vorzügliche kyrillische Lettern in Amsterdam gefertigt werden. Wenn ein junger Mann, der mit der erforderlichen Begabung und Rechtschaffenheit ausgestattet ist, sich für eine solche Aufgabe rüsten wollte und mir erlaubt wäre, mit ihm den einen oder anderen Monat zusammen zu sein, würde ich keine Mühe scheuen, ihm beim Erlernen der Sprache zu helfen und dafür zuträgliche Ratschläge zu geben. Bei der Begabung fordere ich nicht nur ein für die Lehre aufnahmefähiges Gedächtnis, sondern auch ein Urteilsvermögen, „das ohne Schaden des Gewissens allen zu gefallen weiß.“ Darin wird gewiss niemand leicht im Stich gelassen werden, der von oben mit den Gaben zur erfolgreichen Behandlung des Wortes ausgerüstet ist und ein Herz zur Aufnahme der ewigen Weisheit in der Brust trägt. Damit pflegt als eine in diesen Fällen besonders notwendige Sache die Frömmigkeit bzw. Rechtschaffenheit des Charakters unauflöslich verbunden zu sein, dessen Verkehrtheit mich sehr empört hat, als ich bemerkte, dass bei einem unserer Pastoren ein Jerusalemer Archimandrit darauf achtete, der von dem Bruder seiner Mutter, dem Jerusalemer Patriarchen, nach Moskau geschickt worden war und dort mit uns an einem Gastmahl teilnahm. Teile diese Sache bitte Herrn Dr. Breithaupt mit und, falls es so richtig erscheinen sollte, auch Herrn Dr. Spener. Lebe wohl! Gegeben in London am 14. Oktober 1695. Ludolf, der dich überaus schätzt.

[583]
P.S. Es wird besser sein, wenn dies anderen außer Herrn Dr. Breithaupt und Herrn Dr. Spener verborgen bleibt, damit kein antipietistischer Eifer danach trachtet, die Gemüter dort vorher einzunehmen, um dieses Anliegen zu verhindern. Wie jemand, für den es sich keineswegs geziemt hätte, mich in Moskau mit der Bezeichnung Pietist anzuschwärzen versuchte, weil ich den Beleidigungen Speners widersprochen habe.

Übersetzung: Thomas Hübner

Zurück