Hochgebohrne, Gnädigste Gräfin und Frau,
Demnach sich der Fräulein von Seidewitz, meiner werthen Tochter in
dem HErrn, ihre Reise verzogen berichte ich, daß mich der treue Gott
biß hieher erhalten u. gestärcket, daß morgen hoffe, durch deßen Gnade
das 64. Jahr zurückzulegen u. das 65te anzutreten, auch morgen nach
den Predigten mit christlichen Freunden frölich zu singen: Mein Lauff ist
Gottlob! fast vollbracht, welches Lied im Coburgisch. Gesangbuch stehet;
u. dann das Lied: Meine Liebe hängt am Creutz, so in eben dem Ge-
sangbuch stehet. Das letztere ist vom sel. Dr. Tribbechov, der zu Gotha
Superint. war, gemachet.
Das erstere aber von einem Prof: Jur. zu Helmstädt Georgen
Wernern, von Bopffingen, der im 64. Jahr seines Alters anno 1671 ge-
storben. Gelobet sey der HErr der biß hieher geholffen in Fried u.
Freude im heil. Geiste. Solt ich ihm nicht zutrauen, daß er auch meine
letzten Schritte zur Ewigkeit mir werde selig vollenden helffen? Hallelujah.
Halle d. 22ten Mart: 1727.
Ew. HochGr. Gn. unterthäniger Fürbitter und Wett-Kämpfer um
die Krone des Lebens, alles aus der Gnade unsers Herrn Jesu Christi
A. H. Francke.
mpp.
 

Abgedruckt in: Schmidt, Berthold, Meusel, Otto (Hrsg.): A. H. Franckes Briefe an den Grafen Heirich XXIV. j.L. Reuß zu Köstritz und seine Gemahlin Eleonore aus den Jahren 1704 bis 1727 als Beitrag zur Geschichte des Pietismus. Leipzig 1905, S. 143.