RAUM 6 FRANCKES IMAGEPOLITIK

Je reiner, lebhafter und ununterbrochener diese Gefühle in dem Herzen des Pietisten aufsteigen, je leichter er sich dieselben hervor zu rufen weiß: desto echter und gewisser ist ihm sein Gerecht- und Frommseyn. So lebt und webt er also gleichsam stets mit und in sich selbst, in demjenigen, was wechselweise in seinem Innern vorgeht, findet in den aufsteigenden Empfindungen bald die herzlichste Befrie­digung und Seligkeit, bald beängstigende Zweifel und Un­ruhe; vergißt oft über diese innere Beschäftigung, die ihm sein Alles, das höchste Ziel christlicher Vollkommenheit ist, dasjenige, was außer ihm vorgeht, legt daher auch auf dieses Aeußere dem Anschein nach wenig Werth. Kurz er lebt in einer Ideenwelt, die sein Glaube und seine Empfin­dung ihm schafft, seine Phantasie durch mancherley reit­zende Bilder ihm verschönert. Des Handelns wird dabey freylich auch gedacht,[...]? Allein dieses Handeln erscheint doch immer gleichsam nur als Nebensache tief im Hinter­grunde; denn es hat ja an sich keinen Werth, es ist ja nichts vor Gott. Jenes Gefühl allein, jene Anwendung der Glau­benssätze auf das Innere macht gerecht und macht selig.

Je leichter er dieselben hervor zu rufen weiß: Krause beschwört den Sündenfall des Gefühls, das nicht einfach da ist, sondern gekitzelt und stimuliert wird. Als kulturge­schichtliches Krisen- und Abfallprodukt des Pietismus identifiziert er dabei dieEmpfindeley, die

das Objekt allein ausgenommen durchaus mit der echt pietistischen eine und eben dieselbe ist. Alle die Ge­fahren also, welche jene überspannte Empfindsamkeit mit sich führte, alle jene nachtheiligen, zum Theil schrecklichen Wirkungen, welche sie in der Welt anrichtete, können mit eben dem Rechte dem Pietismus zugeschrieben werden. Er ist recht eigentlich die Empfindeley in der Religion, die unverhältnismäßige Ausbildung und Nahrung des innern Gefühls auf Kosten des Verstandes und der Vernunft.?°

Damit ist das Ende des hallischen Projekts von einer Veränderung der Welt ausgerufen. Was den Unterschied imObjekt ausmacht, lässt Krause unbestimmt. Zu ver­muten steht, dass der gefühlte Gott der ‚Altpietisten von den ‚Jungpietisten und den Empfindelnden gegen das Ge­fühl als Gott ausgetauscht worden ist. Gut vorbereitet durch die pietistische Praktik der Introspektion ist in der

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Empfindeley das Empfinden selbstreferentiell geworden und damit das Gefühl sich selbst genug.

Weitere 40 Jahre später reitet der Philosoph und Histo­riker Bruno Bauer(1809-1882) in seiner Geschichte der Politik, Kultur und Aufklärung des 18. Jahrhunderts(1842/43) noch ein­mal den Vorwurf der Heuchelei wider den Halleschen Pie­tismus und die Waisenhäusler. Man muss fragen, woher Bauer seine Informationen bezogen, welche Quellen er befragt hat, wenn er ausführt:

Dieselben jungen Leute, die im Waisenhause den Kopf hingen und eine traurige Gestalt annahmen, führten in den Wirtshäusern vor den Thoren von Halle ein Leben, welches an wüster Rohheit das gewöhnliche Studentenle­ben noch übertraf. Die Pietisten vollendeten nur die Mön­cherei der Universität, also auch die Rohheit der Schüler.

Bauer, ein Anhänger der Religionskritik Feuerbachs, lässt kein gutes Haar an den Pietisten, bei denen es zu keiner Zeit eine fromme Lebensführung, die geringste so­zialreformerische oder pädagogisch-erzieherische An­strengung gegeben haben soll. Für den hallischen Pietismus greift diese letzte Einschätzung sicherlich entschieden zu kurz:

Der Pietismus kam altersschwach auf die Welt und sein Betragen war auch danach. Eine Sache herzhaft an­greifen und behandeln war ihm unmöglich, er konnte nur pretentiöse Fingerzeige geben, gegen die Welt poltern, oder mit selbstgefälliger Schwatzhaftigkeit, in welcher Lange das Höchste geleistet hat, seine kleinlichen Erfah­rungen der Gnade Gottes vortragen. Für die Erweiterung des Volksbewußtseins oder für den Fortschritt in den Wis­senschaften haben die Häuptlinge des Pietismus nichts gethan und die Wahrheit, durch die sie Epoche machten, schrumpfte in ihren Händen sehr bald ein.

Bauers Beschreibung des Weges, den das Hallesche Waisenhaus zur Sicherung seiner Vormacht beschritten haben soll, ist ebenso erhellend wie erschütternd, denn nach zwanzig Jahren glaubten die Pietisten und das mit Recht sich nicht mehr in Halle halten zu können, wenn

Bilderbogen mit Ansichten der Franckeschen Stiftungen, Lithografie von J. E. Walther nach Fr. Trost, 1842. Halle, Franckesche Stiftungen: AFSt/B Sc 0073