1.„der leib folget alsdann den affecten selbsten“— Frömmigkeitsdarstellung im Pietismus
Pietistische Frömmigkeit wollte praktiziert werden und praktisch sein und als praktizierte und praktische wahrgenommen werden— in aufrichtigen Worten, Gesten und Taten: um vorbildlich zu wirken, Gegner zu entwaffnen, Anhänger zu gewinnen, kurz- um den Menschen zu verändern und durch den Menschen die Welt. Das am Ende des 17. Jahrhunderts neue Angebot des Pietismus auf dem Frömmigkeitsmarkt verlangte nach neuen und überzeugenden Werbe- und Vermarktungsstrategien.
Ein wie schwieriges Geschäft die Frömmigkeit in Darstellung und Wahrnehmung, Deutung und Beurteilung war, erörtert Philipp Jakob Spener(1635-1705), Gründervater des lutherischen Pietismus und Mentor August Hermann Franckes, in seinen Christlichen Bußpredigten:
„Wo aber solche demuth in den hertzen ist/ da zeiget sie sich auch in worten und geberden.
In geberden zwar/ daß dieselben ehrerbietig und nicht niederträchtig seyen. Man schreibet hier niemand vor/ ob das gebet allezeit kniend/ stehend/ liegend/ oder wie es verrichtet werden solle.[...] Dann die andacht denckt nicht lange vor/ wie sie sich geberden wolle/ gleich als wolte sie ein Spiel machen/ das mit grossen ceremonien müßte verrichtet werden/ sondern sie ist mit allen gedancken auf das gebet beflissen/ der leib folget alsdann den affecten selbsten. Gleiches ist auch zu halten von handfalten/ hand=auffheben/ auf= oder nieder=schlagen der augen/ vergiessung der thränen: da einerseits die vergiessung der thränen/ eine probe ist/ eines hertzen/ das so viel mehr beweget ist/ da hier diejenige gottlose Verächter Göttlicher
5.23| Die Kleidertracht der Berlinischen Geistlichen, Illustration in: Christoph Friedrich Nicolai: Das Leben und die Meinungen des Herrn Magister Sebaldus Nothanker. Bd. 2. Berlin, Stettin: Nicolai, 1775, 93.
Christian Soboth
„Das Haar laß recht verwirrt um Kopf und Stirne fliegen“.
Hallischer Pietismus, frisiert und unfrisiert
würckungen sind/ die fromme seelen/ da sie derselben augen in dem gebet voller wasser sehen/ darüber lachen und spotten; Anderntheils aber ist auch keine solche nothwendigkeit/ daß man das außbleiben derselben an seiner eigenen oder seinen neben=menschen andacht etwas zu zweiffeln hätte. Vielen sind die thränen niemahl theurer/ als wo sie am hefftigsten beweget sind. In summa/ hie soll die wahre demuth deß hertzens/ und nicht einige äusserliche regeln maaß geben.“
Frömmigkeit kann sich darstellen, muss sie aber nicht. Für Andacht und Gebet benennt Spener die klassischen Ausdrucksformen, die sich in der Gegnerrede zum Klischee formen: Knien, Stehen, Liegen, Händefalten, Händeheben, Niederschlagen der Augen, Vergießen von Tränen.? Hinzu kommen im Gehen und Stehen die eingeknickten Knie, das Seufzen, der hängende Kopf, die hängenden Schultern, die hängenden Haare: So soll sich— für Freund und Feind — pietistische Frömmigkeit körpersprachlich ausgedrückt haben. Die Zeugenbefragung am 10. Oktober 1689, anlässlich der Leipziger Auseinandersetzungen über den Pietismus, ist ein frühes Zeugnis dieser beiderseitigen Aufmerksamkeit für die Frömmigkeitsexpression. Gefragt nach „Mores und Thun“ der Angeklagten antwortete der sechste Zeuge:„Sie sähen gantz erbar auß/ giengen in Mänteln/ hätten Umbschläglichen und/ seuffzeten/ legeten die Hände zusammen/ und hiengen den Kopff[...].“ Und der siebente: „[...] sie giengen und hiengen den Kopff/ und da sie vormals das Haar aufgekrauset gehabt/ so wären die Haare anitzo/ als wären sie durch Striegel gezogen.“?
Wer im Modus der Andacht und des Gebets nicht weint und vielleicht gut frisiert ist, so Speners differenzierte Analyse, muss nicht unfromm sein; wer aber weint, muss nicht zwangsläufig fromm sein. Entsprechend vorsichtig sollte die Beurteilung ausfallen. Das heißt für Spener aber