RAUM 6 FRANCKES IMAGEPOLITIK

August Hermann Francke, Öl auf Leinwand. Das Bildnis zeigt Francke mit seinem natürlichen Haar. Halle, Franckesche Stiftungen: AFSt/B G 0073

auch, dass Frömmigkeit sich nicht expressiv verwirklicht und erschöpft. Ob mit Tränen oder ohne, entscheidend ist, dassder leib folget alsdann den affecten selbsten.

Pietistische Frömmigkeit ist von ihrer theologischen Untersetzung her Selbstdarstellung vor Publikum: vor Gott als dem prominentesten Zuschauer mit umfassender kardiognostischer Kompetenz, vor dem eigenen Gewissen als unbeugsamer Instanz, vor den ebenfalls pietistischen Frommen mit identifikatorischer Gestimmtheit sowie vor anderen Zuschauern aus dem lutherisch-orthodoxen und aus dem Lager der Aufklärer mit nicht unbedingt empa­thischer Zugeneigtheit. Aufgabe pietistischer Frömmig­keitsdarstellungen war für den Einzelnen wie für die Gemeinschaft neben der Authentifizierung und Legiti­mierung ihres Frommseins die Etablierung einer distinkten individuellen und kollektiven Identität.

Dementsprechend eifrig waren die Pietisten darauf be­dacht, ihr Wahrgenommenwerden zu steuern, und mit Aufmerksamkeit haben sie leibseelische Manifestationen ihrer Frömmigkeit wie das Weinen und das Seufzen bedacht und reglementiert. Die Gestaltung ereignete sich nicht ein­fach. Sie wurde als Gestaltgebung, wie Beispiele zum hal­lischen Pietismus belegen, strategisch und adressatenbe­zogen konzipiert, durchgeführt und auf Erfolg oder Misserfolg hin reflektiert und bei Bedarf umgestellt.* Der pietistische Leib sollte und konnte deshalb den Affekten folgen, weil diese ihrerseits diszipliniert, nötigenfalls un­terdrückt wurden. Darüber, welche Affekte würdig und welche unwürdig waren, gefühlt und dargestellt zu werden, bestand kein Zweifel. Dazu erteilte die Bibel mit ihren Dar­stellungen guter und schlechter Affekte Auskunft. Sie lieferte das Script für pietistische Frömmigkeitsexpressionen.

1787, am Ende des pietistischen 18. Jahrhunderts, notiert der Theologe Christian Friedrich Duttenhofer(1742-1814), es sei der Irrglaube der Pietisten gewesen, Frömmigkeit müsse sich im Hier und Jetzt darstellen:

Das proton pseudos[die erste Täuschung, d.Vf.] aber, worauf der ganze Pietismus von jeher beruhete, oder der Irrthum[...], den man, so viel ich weiß, noch nirgends be­merkt hat, besteht in der Meinung, dass wahre Frömmigkeit sich schon hier durch aeussere sichtbare Merkmale so deutlich offenbaren müsse, dass man es einem jeden so­gleich an seinem ganzen aeussern Betragen ansehen, ab­merken, und aus allen seinen Reden abhören könne, ob er ein Wiedergeborener sey oder nicht.

Mit Blick auf Speners vorsichtig abwägende Äußerungen erweist sich Duttenhofers Auffassung ihrerseits als Irrtum. Im Folgenden lauten die entscheidenden Fragen: Wie ist die pietistische Frömmigkeit bzw. der fromme Pietist vor allem von den orthodoxen und aufklärerischen Gegnern wahr­genommen und beurteilt worden? Haben die Gegner in dem, was den Pietisten als Frömmigkeit galt, eine solche er­kennen können oder wollen? Vorgestellt werden dazu aus dem 18. und 19. Jahrhundert einige wenige Wahrnehmungen

Johann Anastasius Freylinghausen, Öl auf Leinwand, Johann Christian Hein­rich Sporleder, um 1735. Im Unterschied zu Francke trug Freylinghausen eine Allongeperücke. Halle, Franckesche Stiftungen: AFSt/B G 0075