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zu ihren Gunsten nicht Gewalt gebraucht würde“.® Es ist erstaunlich, dass in Bezug auf die Institution des Waisenhauses neben dem Vorwurf der Heuchelei wiederholt eine nach innen wie nach außen geübte Gewalt zur Sprache kommt. Bauers abschließendes Urteil fällt ebenso vernichtend aus wie das im Magazin oder bei Krause:
„Von manchem See oder Strom sagt der Volksglaube, daß er sein jährliches Opfer haben müsse: das hallische Waisen=Haus war ein trüber See, dessen Opfer zahllos waren.‘34
Zu einer ausgewogeneren Einschätzung des Pietismus im Allgemeinen und des Halleschen Waisenhauses im Besonderen kommt Ende des 19. Jahrhunderts der Philosoph und Staatswissenschaftler Karl Biedermann(1812-1901). Er notiert 1880 in seinem Deutschland im 18. Jahrhundert:
„Ja selbst die pietistische Theologenschule hatte in den vielbesuchten und weithin einflußreichen Anstalten August Hermann Francke’s neben dem fromm-erbaulichen zugleich ein entschieden realistisches, dem Leben und seinen praktischen Bedürfnissen rückhaltlos zugewendetes Bildungselement zu Tage gefördert und war so, durch eine eigenthümliche Verbindung scheinbar entgegengesetzter Pole, die Mutter eines neuen, fruchtbaren Unterrichtszweigs geworden, welcher in der ersten, 1736 von Hecker in Berlin gegründeten Realschule seine selbständige Vertretung fand.“
Gleichwohl kritisiert auch Biedermann, dass die„große, ernstgemeinte und in ihren Anfängen höchst wohlthätige Sittenreform“„in ihrem weiteren Fortgange[daran] scheiterte, daß man nur die Menschen, nicht die Verhältnisse, nicht die allgemeinen Formen und Einrichtungen der Gesellschaft zu verbessern unternommen, daß man es für möglich gehalten hatte, eine blos ideale, moralische Reform
durchzuführen ohne eine gleichzeitige politische und sociale“.?® Immerhin stellt Biedermann die erzieherischen Bemühungen und Erfolge nicht vollkommen in Abrede, doch habe das reformerische Werk an der individualistischen Fokussierung scheitern müssen. Biedermann kommt zu einem Urteil, das freilich weniger mit Verachtung wie bei Bauer als mit einem weinenden Auge formuliert scheint:
„Die einst so kräftige, so schöne und heilsame Erregung der Gemüther, welche der fromme Spener entzündet, war seitdem je mehr und mehr theils ermattet, theils in krankhafte Ueberreizung oder gar in widerliche Heuchelei ausgeartet.“7
Der Kreis vom Frömmigkeitsanalytiker Spener zum frommen Spener schließt sich: Für 200 Jahre prägt eisern der Vorwurf der Heuchelei im Sinne eines reflektierten und strategisch eingesetzten Habitus die Wahrnehmung insbesondere der hallischen Pietisten. Dem lagern sich— wie einem Magneten— die genannten weiteren Vorwürfe an. Die von Biedermann geltend gemachten Erklärungsmuster — Ermattung und Überreizung— diagnostizieren am Pietismus zudem degenerative und psychopathologische Anfälligkeiten, denen auch seine Handlungslähmung und Aggressivität zugeordnet werden. Das macht es nicht besser. Die wenigen hier zusammen getragenen Stimmen aus Dichtung und Historiografie stehen für eine sicherlich in besonderer Weise frisierte Wahrnehmung von Pietisten unter anderen Wahrnehmungen. Ihr Wahrheitsgehalt steht, wie eingangs erwähnt, nicht zur Diskussion, vielleicht sogar in Frage. Dabei ist jedoch nicht auszuschließen, dass die vorgestellte kritische bis boshafte Wahrnehmung einer ebenso besonderen unfrisierten Wahrnehmbarkeit aufruht.
' Philipp Jakob Spener: Christliche Bußpredigten. Frankfurt/Main: Zunner,*1687, 533f.
? Der Pietismus unterscheidet fein säuberlich zwischen Weinen und Vergießen der Tränen, vgl. Christian Soboth: Tränen des Auges, Tränen des Herzens. Anatomien des Weinens in Pietismus, Aufklärung und Empfindsamkeit. In: Anatomie. Sektionen einer medizinischen Wissenschaft im 18. Jahrhundert. Hg. v. Jürgen Helm u. Karin Stukenbrock. Wiesbaden 2003, 293-315.
> Gerichtliches Leipziger Protocoll[...]. 1692. In:
August Hermann Francke: Schriften und Predigten. Bd. ı: Streitschriften. Hg. v. Erhard Peschke. Berlin, New York 1981(TGP 11.4), 29.
+ Vgl. Soboth[s. Anm. 2] u. Natalie Binczek: Tränenflüsse. Eine empfindsame Mitteilungsform und ihre Verhandlungen in Literatur, Religion und Medizin. In: Pietismus und Neuzeit 34, 2008, 199-217. > Christian Friedrich Duttenhofer: Freymüthige Untersuchungen über Pietismus und Orthodoxie. Halle 1787, 524.
* Johann Benedict Carpzov: Martin Borns[...] Leich
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Predigt, Sampt[...] Fellers[...] damals verfertigten EPICEDIO, worauf die Inqvisition wider die Pietisten angegangen. O.O. 1692.
7 Ursula Geitner: Die Sprache der Verstellung. Studien zum rhetorischen und anthropologischen Wissen im 17. und 18. Jahrhundert. Tübingen 1992.
5 Der historischen Sachlage entsprechend sind zunächst die hallischen Pietisten zur Zielscheibe geworden, gefolgt von den Herrnhutern und den Radikalen. Inwiefern auch die Württemberger Hohn und Spott auf sich gezogen haben, muss genaueres