Ohne daß ich die Schullectiones fleißig besuchte und mich privatim informiren ließ, so nahm
auch noch der Herr von Bonjour die Mühe über sich mir einige besondere Lectiones zu geben.
Seine Bibliothec stand zu meinem Gebrauch. Dahero wann ich ein Stündlein erübrigen konte,
so laß ich unter andern gern die Bibel mit des Tossani noten, die mir in vielen Dingen ein schönes
Licht gaben. Ob ich gleich ietzo hätte sofort können auf die Universität ziehen, wie andere pflegeten
so hielt ich es doch beßer vorher noch auf ein Gymnasium eine Zeitlang mich aufzuhalten. Denn
ich habe es hernach an anderen observiret, daß wer nicht viel auf Universität mitbringet, der
bringet auch nicht viel mit herunter, wie das gemeine Sprüchwort lautet, zu mahlen mancher aus
Mangel der dazu gehörigen Mittel nur wenig Jahre auf acadamien bleiben kan und alsdann aller
erst will den Anfang machen diejenigen nohtwendigen Sprachen und Wißenschafften zu lernen, die
Er längst hätte auf Schulen wißen sollen und also darüber unterdeßen beßere und wichtigere
Dinge muß aussetzen oder nur halb tractiren. Ich ging deshalb nach Berlin um in dem Jochen-
thalischen Gymnasio zu frequentiren. Nicht lang hernach, als ich in Berlin angekommen war, ging
ich mit großen Ernst und hertzlichen Verlangen zum heiligen Abendmahl in der St. Nicolae-Kirche bey dem Herrn Smith sonst Brandenburgensis genant. Ich meynete mit der Veränderung
des Orts und der Geselschafft auch mein gantzes Leben zu verändern, denn ich hielt mich für böse und
gottlos; welches gantzlich wahr war, ob ich schon damahls noch nicht verstand und glaubete wie böse
ein natürlicher Mensch ist. Durch den Genuß aber des Hochheiligen Abendmahls bekahm ich
auch dieses mahl eine solche Süßigkeit und liebliche Empfindung in meiner Seele, daß meine
Commilitones an demselbigen Tage als wir nach Hause gekommen, mir es im Gesichte
mercketen, wie ungemein Vergnüget ich seyn müste. Da blickete mich Gott am ersten,
daß ich es merckete, gnädiglich an; und von der Zeit habe ich angefangen zu glauben, welche Krafft und
Stärcke uns beym Genuß des heiligen Abendmahls würde geschencket werden, wenn wirs nur
redlich mit Gott meynen wolten. In eben derselben Kirche hörete ich einsten in der Vesper Pre-
digt einen besondern geistlichen Vortrag an, darinnen von den innerlichen Menschen gehandelt
ward, das Wort: Der innere Mensch kam mir ietzo als was unerhöhrtes vor, ich dachte hin und
her was doch dies seyn müste, denn es wäre ja die Seele nicht selbst, auch konnte nicht ergründen,
warum der erneurte Seelen Zustand, wenn nemlich die Seele verändert und verbeßert,
der innere Mensch genannt würde, allein wie solte ich es doch verstehen, weil ich ihn selbst nicht
hatte? Auf ein andermahl ward in der St. Peters Kirche geprediget und nach Anleitung der
Text Worte, sprach der Prediger diesen Sententz aus: Wer nicht über sein Hertz wachet, ist
kein Christ. Dieses Uhrtheil verdammete mich gantz und gar, denn ich glaubete, ich hätte bis
hero auch noch nicht über mein Hertz gewachet, darum so wäre ich auch noch nicht ein Christ,
Fing dem nach an, mich alle Abend nach meinem gehaltenen Abend Gebeht zu examinieren,
was ich des Tages über geredet und gedacht hätte, mit dem Vorsatz nunmehro ein Christ zu wer-
den. Damit ich nun möchte gute Rechnung halten und nach Abbitte meiner Sünden, einen festen
Schluß faßen, des andern Tages beßer meine Worte zu zählen, so fing ich einen sinnenreichen Sententz
in der Lateinischen Sprache jeden Abend aufzuschreiben an, diesen drückete ich in mein Gemüthe und
meditando schlief ich darüber ein. Ob ich nun zwar Anno 1709 vor Ostern in Berlin ange-
kommen war, so fing ich doch dieses erst den 15ten Septemb. an und habe es auch so fort ge-
setzet biß ich aus Berlin wieder Abschied nahm. Von vielen Jahren her, ja von Jugend auf
habe ich gern geistreiche Schrifften gelesen, unter den selben mag ich alhier nennen Sonthoms
güldenes Kleinod, Dykes Selbst Betrug, Thomas de Kempis, Gerhardi meditationes, Tho-
mas de Beust de arte bene moriendi. Itzo aber bekahm ich von ohngefähr zum Ver-
kauff Johann Foxi Gottselige Gedancken von der Zeit und deßen Ende. Eben das
geringe Buch, welches vor wenig Tagen in der oben gedachten Predigt war recommendiret
worden. Ja dieses Buch laß ich nunmehro fleißig und fing auch meine Zeit auszukauffen
an, damit Zeit und Pflicht, welches Gott zusammen verbunden hat, möchten recht von mir
beobachtet werden. Ob ich nun zwar nimmer die Zeit liederlich laßen hingehen, als
Leute die nicht wissen, was sie damit thun und anfangen sollen, so begunte doch ietzo
aller erst deßen Kostbahrkeit recht einzusehen, ja von der Stunde an biß diesen Augen
blick, da ich dieses schreibe, bestrebe ich mich von allen Tagen und Stunden Gott Rechenschafft
zu geben. Aus meinen Diariis mag erhellen, wie es immer bey mir heiße: nulla
dies sine linea. Bey gewißen Umständen, die nur das zeitliche und leibliche betraffen
kam ich auf ein gewißes mahl in harter Noht. Ich wendete mich zu Gott, denn ich glaubete doch
B