Der Inspektor gehörte unter diejenigen verachtungs­würdigen Menschen, welche in ihrer Jugend allen Aus­schweifungen ergeben sind, und im Alter Heuchler und Pietisten werden. In Jena hatte Frosch das liederlichste Leben geführt, war aber dem ohnerachtet durch das Ansehn seines Vaters gleich nach seiner Zurückkunft von der Aka­demie Prediger geworden, und hatte bald darauf die Auf­sicht über eine wichtige deutsche Schulanstalt erhalten, über welche er mit einem unerhörten theologischen Des­potismus zu herrschen anfıng. Die Lehrer und Schüler derselben zitterten schon vor seinem Namen.[...] Die kleinsten Fehler, oft ganz unschuldige Vergnügungen derer, welche auf der Schulanstalt keine Pietisten waren, das heißt eigenes Haar, Manschetten, blanke Knöpfe, und far­bige Kleider trugen, den Kopf nicht hingen, und die Worte Gnade und Wiedergeburt nicht alle Augenblicke seufzend im Munde führten, wurden gemeiniglich mit der größten Strenge, und nicht selten wider alle Gerechtigkeit und Menschenvernunft mit der Cassation bestraft. Destomehr Gewalt hatten die frommen Creaturen des Inspektors. Diese waren seine rechte Hand; aber ebenso so viel kleine Tyrannen, die einen jeden, der nicht so wie sie heuchelte,

Züchtigung eines Schülers: Castigo, ich züchtige, teilkolorierter Kupferstich, in: Primitiva Latinae Lingvae, Germanice Explicata, Gallice Accommodata, Et Figvris Illvstrata= Lateinisch- Teutsch- und Französisches Wörter-Buch: der lieben Jugend zum nüzlichen und ergözlichen Gebrauch. Nürnberg, 1761, Tafel 10. Pictura Paedagogica online: AD 8276

PIETISMUS FRISIERT UND UNFRISIERT

Christian Fürchtegott Gellert, Stahlstich von Albert Henry Payne(Stecher). Halle, Franckesche Stiftungen: BFSt: Porträtsammlung: B 1638

verfolgen und bestrafen durften, wenn sie seiner habhaft werden konnten.*

Welche konkreten Formen und Funktionen die Heu­chelei annehmen konnte, demonstriert eindrucksvoll das Caput XI Von der Feindschafft, so die Academie Halle von denen Brüdern erduldet aus der Ausführlichen Historischen und Theolo­gischen Nachricht von der Herrenhuthischen Brüderschafft von 1743. Der Titel lässt Sympathie für die Halleschen Pietisten und eine Abrechnung mit den abgefallenen Brüdern in Herrnhut erwarten. Das Gegenteil ist der Fall. Der Text schildert aus der Perspektive eines anonymen Augenzeugen (einenLiebhaber der reinen Gottseligkeit nennt ihn das Titelblatt) eine unter dem Direktorat Gotthilf August Franckes gehaltene Bet- und Singestunde. Neben derum­ständliche[n] Erzehlung der Conversion als dem einen der Haupt-Requisit[a] eines Hällischen Studiosi richtet der Verfasser sein Augenmerk auf dieFertigkeit ein Gebet mit