RAUM 6 FRANCKES IMAGEPOLITIK

eigenen Worten zu verrichten, von dem er nicht weiß,ob es mehr ein Hirn- oder Hertzens-Gebet zu nennen sey:?°

Ob wohl einige, wie jetzo gemeldet, dem Herrn Francken einfältig nachgehen, und sich seinem Worte und vorgeschriebenen Methode in der Bekehrung unterwerffen, so giebt es doch viele, ja den größten Theil, die nur aus Heucheley mit machen, was jene aus Einfalt begehen, sie fallen in denen angestellten Bet- und Bekehrungs-Stunden auch mit auf ihre Knie, thun als wenn es ihnen ein rechter Ernst wäre, beten und schreyen wohl noch hefftiger und beweglicher als die vorigen, dass man meynen sollte, er [Francke] wäre mit diesen Leuten schon halb, wo nicht gar herum. Inzwischen wissen sie den Schalck so meister­lich in ihren Hertzen zu verbergen, dass, ob sie wohl zur Zeit nur äusserliche Vortheile suchen, nemlich die Sus­tentation auf der Academie, und nach vollbrachten Uni­versitäts-Jahren Recommendation ins Amt oder auch nur in Condition, weil ersteres gar selten geschehen kann, man es ihnen doch nicht anmercket, sondern wohl in den Augen derer Inspectoren vor die besten gehalten werden. Ihr Kopff, weil alles affectirt ist, hanget weit tieffer als der andern ihre Seuffzer fliegen, weit höher als derer vorigen, und ihr Gang ist weit seltsamer als der andern. Gewiß wer mit Verstand und Klugheit in die gantzen Anstalten hinein schauet, wird solche Dinge darinnen gewahr werden, die zwar höchst seltsam und wunderlich anzusehn, aber zu practiciren fast bedencklich, wo nicht gar gefährlich sind.

Die hier nur im Ausschnitt präsentierte farbige Dar­stellung vergegenwärtigt ein ebenso theatrales wie thea­tralisches Geschehen. Man ist versucht, die heftige Abwehr des Halleschen Pietismus gegenüber Theater und Schauspiel nicht mit den bekannten theologischen Argumenten in Verbindung zu bringen(Vortäuschung falscher Tatsachen, Zeitverschwendung), sondern schlicht mit der Tatsache, dass(sich) der Pietismus in dieser seiner gemeinschaftlichen Dimension selbst schon Theater genug war, zumindest ist er als solches wahrgenommen worden. Kopfhängerei, Wei­nen, Schreien, Seufzen, der seltsame Gang mit eingeknick­ten Knien, mit zum Himmel emporgehobenen Armen bei hängenden Schultern das bereits bei Spener aufgerufene

mimisch-gestische Repertoire ist vertreten, einschließlich der karrieristischen Strategie solcher Schauspielerei: die Versorgung auf der Akademie, die Empfehlung in ein Amt oder in eine Stellung.??

Welche verheerenden Folgen extra muros orphanotrophei ein solchermaßen erheucheltes Amt haben konnte, wird in dem in deutscher Übersetzung 1746 veröffentlichten Briefroman Menoza des dänischen orthodoxen Theologen Erik Pontoppidan(1698-1764) herausgestellt. Der in Tran­quebar bekehrte cumbanische Prinz Menoza besucht Europa, um dort die in seiner Heimat von den Missionaren gepriesenen wahren Christen zu finden. Natürlich besucht er, 1730, drei Jahre nach Franckes Tod und angelockt durch vollmundige Werbeprospekte,* dasweit berühmte Way­senhauß, welches mit dem Paedagogio und andern dazu gehörigen Gebäuden einem Fürstlichen Schlosse gleichet.?* Am Beispiel hallischer Prediger macht Menoza auf unan­genehme Folgeerscheinungen der Ausbildung im Waisen­haus aufmerksam:

Gleichwie aber die allerbesten Dinge, zufälliger Weise, was fremdes und verderbtes gebären können, so soll es auch, wie man sagt, hiermit gehen, dass nemlich[...] sot­hane gute Studenten, durch die ohne eintzige Ueberlegung gehaltene Reden, welche ihnen zugleich eine Uebung seyn sollen, sich nachgerade angewöhnen, einen andächtigen Mischmasch daher zu machen, oder mit devoten Minen hin und wieder, und doch immer einerley zu reden, ohne Grund, ohne Ordnung, ohne Weißheits-Saltz und ohne rechte Zueignung. Sind sie hierinnen erst einmahl zu einer Fertigkeit gelanget, so behalten und gebrauchen sie dieselbe, wann sie ein Prediger-Amt überkommen, in der gäntzlichen Einbildung, dass sie, als von Gott gelehret und mit seinem Geist erfüllet, alles aus der Salbung reden, wenn schon in ihrem Vorbringen weder Saft noch Kraft, weder Grund noch einiges Gewichte zu spühren ist, ausgenommen was sie sich selbst etwan imaginiren.®

Der pietistische Prediger erscheint sich als ein von Gott mit Geist begabter Redner, für Menoza ist er ein von Hirn­gespinsten und Imaginationen umnebelter Schwätzer, des­senArt zu predigen hiernächst gefährlicher denn zuvor je­mahls werden[kann], gestaltsam die Layen nun nicht mehr